CLAUS PHILIPPS ARTIKEL

Was von der Kindheit übrig blieb
Paul-Julien Roberts zutiefst bewegender, erhellender Film „MEINE KEINE FAMILIE“ von Claus Philipp

Bei der Aufarbeitung von Zeitgeschichte, insbesondere wenn diese belastend ist, könnte man gewissermaßen drei Dynamiken unterscheiden: Da wären, meist in relativ kurzer zeitlicher Distanz zum Vergangenen, „Überkommenen“ emotionalisierte Formen der Affirmation oder Ablehnung. Da wäre, meist in Abgrenzung zur Emotion, in weiterer Folge die kühle, protokollarische, dem Faktischen verpflichtete Aufarbeitung. Und drittens, nicht selten zeitlich sehr verzögert, wäre da der Dialog, der Erfahrungsaustausch, die relativierende Auseinandersetzung zwischen Geschichte und Eigensinn. Das Spezifische rückt gegenüber dem Allgemeingültigen (was auch immer das sein mag) in den Vordergrund. Was dem/den Einzelnen zugestoßen ist, mag historisch zwar vergleichbar sein, de facto ist es aber ein Gemenge höchst spezieller und spezifischer Begebenheiten und Konstellation. Wie lange es dauern kann, bis die Erzählung über Geschichte an Komplexität und Ambivalenz gewinnt: Man sieht es an den Dramen des 20. Jahrhunderts ebenso wie an Misshandlungsgeschichten des privaten Lebens. Je unverstellter der Blick, desto reicher der Text.

Geradezu schwindelerregend reich ist in dieser Hinsicht – trotz verhältnismäßig geringer Distanz – der filmische und autobiographische Text, den Paul-Julien Robert mit„MEINE KEINE FAMILIE“ vorlegt. Interessant die Frage, wie ein mit der österreichischen Zeit- und Kunstgeschichte nicht Bewanderter diese Erzählung über die Mühl-Kommune am Friedrichshof und die ekstatisch dem Gemeinsinn ergebenen Kommunarden dort aufnehmen würde: Der Film gibt faktische Hintergründe nämlich nur bedingt wieder. Phasenweise mutet er an wie ein Tanz verrückter Bewegungen, Kostüme, Zeitgesichter – wie aus weiter Ferne, gleichzeitig noch ganz nah.

Was wäre aber das Faktische, wenn der Regisseur und Autor nicht einmal 100-prozentig weiß, wer sein leiblicher Vater ist/war? Seine Kindheit auf dem Friedrichshof, in der er von derart vielen Personen umsorgt worden zu sein scheint, bis irgendwann das Gefühl von Behütetsein ausser Sicht geriet – Paul-Julien Robert befragt dazu seine Mutter, die sich mit erstaunlicher Offenheit darauf einlässt, aber mitunter den Scheuklappenblick nicht ablegt. Er befragt Ex-Kommunarden, deren Leben nach dem Friedrichshof teilweise so eigenartig und exzentrisch ist wie die Umstände, unter denen es zu diesem Gemeinwesen kann. Er befragt nicht zuletzt Filmaufzeichnungen, auf denen man sehen kann, was das bedeutet haben mag: Aktionstherapie, Selbstentäusserung, einem großen Ganzen zuarbeiten, das vielleicht nur Aktionsradius für einen großen Privat- und Kunstdiktator namens Otto Mühl war.

Paul-Julien Robert schwingt sich dabei nicht zum Ankläger auf. Selbst wenn er im Gespräch mit seiner Mutter und mit seinen Vätern Vorwürfe macht, steht dahinter nicht die Absicht eines vorgefertigten Bildes, sondern der Versuch, Motivationen des jeweiligen Gegenübers freizulegen. „MEINE KEINE FAMILIE“ wird darüber zu einer dokumentarischen Novelle, einem durchaus liebevollen Kindheitsalbum, einer Vermessung von Abgründen und dessen, was man von ihnen in sich haben mag – bis sich schließlich selbst das Kino im Kino spiegelt:

Am Ende des Films sitzen Robert und seine Mutter in einem Screening Room, die Kamera ist nicht auf die Leinwand, sondern auf sie gerichtet. Man nimmt wahr, wie sehr das Neugesehene den Protagonisten/Erzähler mitnimmt. Man sieht den besorgten Blick der Mutter. Ja,„MEINE KEINE FAMILIE“ ist (auch) ein sehr emotionaler Film, er gibt aber nicht vor, wie man (s)eine Geschichte zu lesen hätte. Und in diesem Sinne entwirft er auch etwas viel Größeres als einfach nur ein Kapitel Zeitgeschichte: Etwa eine Variation, dass wir es uns einfach nicht aussuchen können, von wem wir in die Welt gesetzt werden. Aber den Blick auf diese Welt, den können wir gestalten.